Der Grieche

Was ist denn das für ein spindeldürrer Vogel, dachte ich. Eine junge Version von Bert Brecht? Das Gesicht, die Nickelbrille, der kluge Blick – könnte passen. Und rauchen tat er auch wie ein Schlot. Stinkende filterlose Kippen, oval wie türkische Zigaretten, mit kyrillischen Buchstaben auf der Schachtel: Παπαστράτος – Papastratos. Ich griff trotzdem gerne zu. 

Unter all den schrägen Figuren, deren Namen ich mir als Neuer nach den großen Ferien am Kolleg merken musste, war Christian wohl sicher am einfachsten zu erinnern: Er war der „Grieche“. Sein Vater war Diplomat in Athen, daher der Spitzname. 

Spitznamen werden meistens willkürlich vergeben; sie verballhornen den Namen oder spielen auf eine Eigenschaft des Trägers an. Das kann Fluch oder Segen sein. Dass Christian nach jeden Ferien aus Athen angeflogen kam und seinen Diplomatenpass schamlos ausnutzte, um sein Handgepäck voll mit Stangen übelriechender griechischer Zigaretten durch den Zoll zu bugsieren, war eigentlich nicht sein Verdienst, trug ihm jedoch den Spitznamen “Grieche” ein. Und den machte er sich zu eigen, er verwandelte ihn in sein Markenzeichen. Es gibt Freunde von uns, die gar nicht wissen, wie der Grieche mit bürgerlichem Namen hieß. Christian Kuhna.

Der Grieche war wirklich eine Marke. Seine Korrespondenz und seine Bilder signierte er mit schlicht mit “GR”. Sein Humor war dunkel wie der Tabak, den er rauchte und er war gesegnet mit einer überbordenden Kreativität. Sein Zeichenstil grenzte ans Comic-hafte und tatsächlich stammte die Hälfte der Karikaturen in unserer Abi-Zeitung aus seiner Feder. Das bewahrte er sich über die Jahre; er malte und zeichnete mit allem, was ihm in die Finger kam: Kugelschreiber, Füller, Filzstifte, Kreide auf Karton oder Packpapier. Er spielte leidlich Gitarre, später Ukulele, sang dazu und hielt über Jahrzehnte seine Gedanken in Tage- und Notizbüchern fest. Ehrlich gesagt habe ich sie nie zu Gesicht bekommen. 

Sportliche Ertüchtigung hingegen lehnte er konsequent ab: “No sports” – darin war er sich mit Winston Churchill einig. Seine spindeldürre Figur erhielt er lediglich mit einer strengen Diät aus Kaffee und Zigaretten. Aus teuren Autos machte er sich ebenso wenig wie aus teurer Kleidung oder Statussymbolen. Sein Herz schlug für alte Schrottkarren. In seinem ersten Auto, einem Käfer, klebte am Armaturenbrett ein Schild: “Bitte nicht auf den Boden spucken!” Keine Ahnung, woher er das hatte. Genauso begeisterte er sich für Tim und Struppi, Filme mit Woody Allen und Bücher. Stapelweise.

Nach dem Abitur verloren wir uns naturgemäß für ein paar Jahre aus den Augen. Man hörte Entferntes: Student in einer schlagenden Verbindung – naja, nicht so meins; Kunsthändler in Bonn mitsamt Liaison Fou und Ziehtochter – oha; Internetentwicklung für Daimler in Stuttgart – da schau her. Der Sprung ins Siemens Center for Excellence – Respect. Als er nach München kam, wurde unser Kontakt wieder enger. Später, als er Shanghai zu seinem Lebensmittelpunkt machte, löste sich die Verbindung wieder. As life goes.

Aber er hatte dort – mal wieder – eine Heimat gefunden. Was nicht weiter erstaunlich war. Denn der Grieche war der kommunikativste Mensch, dem ich je begegnet bin. Den hättest du auch in eine Polarstation verfrachten können und nach vier Wochen hätte er die gesamte Besatzung in seinen Freundeskreis integriert. Er konnte sich begeistern, das hast du noch nicht gesehen. Lebhaft beschrieb er Menschen und ihre Eigenschaften in den hellsten Farben. Nur manchmal, wenn ich ihn später nach diesem oder jener fragte, von denen er das letzte Mal so geschwärmt hatte, sah er mich unverwandt an: Wer? Da wusste ich, er war schon wieder weitergezogen. 

Der Grieche war schon immer ein Visionär und, früher als die meisten, hatte er die Macht des Internets erkannt. Er sprang nicht auf den Zug auf – er gehörte zu den Lokomotivführern. Als erster in meinem Umfeld predigte er Social Media – und lebte es konsequent. Selten sah ich ihn ohne ein vernetztes Gerät in der Hand. Auf allen Kanälen war er präsent und promotete seine Marke. Für meinen Geschmack etwas zu viel, aber das war sein Leben.

Ich werde die endlosen Gespräche vermissen, die regelmäßig bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Ich erinnere wenige, die so klug, belesen und witzig sind. Am meisten vermisse ich seinen Humor, das gemeinsame Lachen. Ein Gespräch am Telefon, eines Sonntagnachmittags, vor zehn, zwölf Jahren vielleicht: Einer von uns nutzte einen (mittlerweile alltäglichen) Fluch, der gemeinhin mit WTF abgekürzt wird, sprach es aber “Wotzefack” aus.
Say what?
[wotze:fack]
Wir kringelten uns vor Lachen. Innerhalb weniger Minuten hatten wir die Figuren Husefack und Wotzefack aus der Taufe gehoben – samt ihrem Hund Schatzefackap. Eines Tages würden wir das als Comic zeichnen, beschlossen wir. Wenn wir mal wieder gemeinsam Zeit verbrächten, in einem Urlaub in der Toskana vielleicht.
Daraus wird nun wohl leider nichts mehr.

Am 11. September 2024 ist der Grieche gestorben, und wir werden ihn sehr vermissen.

Gaucho

 

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